Im Mai 2019 – also ziemlich genau vor zwei Jahren – fand in Wien das 22ste „EU Forum on eco-innovation“ statt. Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Forums der Europäischen Union befasste sich die EU in dieser zweitägigen Veranstaltung mit einer Herausforderung der internationalen Textil- und Bekleidungsbranche. Zum Thema „Closing the Loop – delivering circularity in the textiles sector“ standen Vorträge, Workshops und Diskussionsrunden unterschiedlicher Europäischer Stakeholder der Branche am Programm. Auch ich durfte dazu beitragen und das Konzept hinter BREDDY’S unter dem Titel „changing the system“ präsentieren.

Es war sehr spannend zu sehen, wer an dieser zweitägigen Veranstaltung teilnahm, welche Organisationen, Behördenvertreter, welche Nationen aber vor allem welche Marken vertreten waren (und auch, welche nicht vertreten waren). Noch spannender waren allerdings die unterschiedlichen Lösungsvorschläge und Konzepte, die präsentiert wurden.

Einer der beeindruckendsten Vorträge war für mich die Vorstellung des Cradle to Cradle Konzeptes, das der österreichischen Herstellers WOLFORD präsentierte. WOLFORD hatte ein Cradle to Cradle Konzept entwickelt und dieses kurz davor auf den Markt gebracht. Das bemerkenswerte daran: WOLFORD hat sich für einen technischen Cradle to Cradle Kreislauf entschieden – und sich somit aus Überlegungen der Nachhaltigkeit Polyester als wichtigstes Material einzusetzen.

Im Veranstaltungssaal saßen rund 250 Experten, von denen sich jeder einzelne täglich mit den Themen der Nachhaltigkeit in unserer Branche befasst. Ich hatte erwartet, dass es genau an diesem Punkt zu Einwänden kommt, dass Kunstfaser kein Lösungsansatz sein kann. Aber nichts dergleichen geschah.

Und somit stellt sich die Frage: Ist der Einsatz von Kunstfasern unter Aspekten der Nachhaltigkeit zu rechtfertigen, oder sogar sinnvoll?

Dazu ein paar Zahlen

Laut einer im Jahr 2011 vom World Wildlife Fund veröffentlichten Studie werden rund 7% der jährlich weltweit geförderten Erdölmenge für die Weiterverarbeitung zu Kunststoffen verwendet, davon wiederum 10%, also insgesamt 0,7% der weltweiten Fördermenge für die Erzeugung von textilen Fasern. 93% der Fördermenge wird verbrannt, für Heizung, Kühlung, Antrieb von Maschinen sowie für weltweite Transporte verwendet. Textile Kunstfasern werden wiederum zu Endprodukten in den unterschiedlichsten Bereich verarbeitet, neben der Bekleidungsindustrie zählen die Automobilindustrie, die Möbel- und Heimtextilindustrie zu den Abnehmern.

Die Vorteile

Hauptargument für die Verwendung von Kunstfasern sind die Haltbarkeit und – zumindest was Polyester betrifft – die günstigen Herstellkosten. Das Thema Haltbarkeit macht in vielen Anwendungsbereichen auch tatsächlich Sinn. Produkte aus Kunstfasern haben in der Regel eine um vielfaches längere Tragedauer als natürliche Materialien. Dort wo technische Textilien zum Einsatz kommen, fehlt es sehr oft an geeigneten Alternativen natürlicher Herkunft. Angesichts der problematischen Herstellungsumstände vieler Naturmaterialien und den damit in Verbindung stehenden Schäden für Mensch, Tierwelt und Natur ist Naturmaterial nicht per se immer besser. (Zu den verheerenden Bedingungen, unter denen ein Großteil der weltweit hergestellten Baumwollfasern entstehen habe ich meinen letzten Blogbeitrag am 14.5.2021 verfasst) 

 Die Probleme

Hauptangriffspunkt ist der Beitrag zur Verschmutzung der Weltmeere durch Mikroplastik und die ewig lagen Verrottungszeit von Kunstfasern. Nicht zu vergessen sind auch die problematischen Umstände, unter denen weltweit der Rohstoff Öl gefördert wird. Umweltkatastrophen, wie die durch die Explosion der Ölplattform Deepwater Horizon im April 2010 im Golf von Mexiko, werden nicht unproblematischer, wenn man „nur“ 0,7% der Erdölfördermenge für Textilien verwendet.

Ich weiß, dass ich mich mit dieser Diskussion auf dünnes Eis begebe. Aber auch ich vertrete die Meinung, dass die Beantwortung der Frage nach dem Einsatz von Naturfaser versus Kunstfaser von unterschiedlichen Umständen in der Herstellung, der Anwendung, der Tragedauer, der Wiederverwendung und nicht zuletzt der Entsorgung abhängt. Und somit nicht eindeutig zu beantworten ist. Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass Naturmaterialien sehr problematisch in der Herstellung und auch in der Wiederverwendung sein können. Jeder der sich zum Beispiel schon einmal mit der Fragestellung der Wiederverwendung von Schuhleder in einem Cradle to Cradle Ansatz befasst hat, wird das bestätigen.

Die Möglichkeiten

Wir sind also weiterhin gefordert, Alternativen zu den derzeitig marktbestimmenden Materialien Baumwolle und Polyester zu entwickeln, um für die Zukunft bessere Alternativen zur Verfügung zu haben. Es gibt bereits unterschiedliche Ansätze, dazu zählen zellstoffbasierende Fasern oder biobasierende Kunststoffe. Innovationen wie Polyamide aus der Rizinusbohne, Lederersatz aus Apfelkernen oder Zellstofffasern, Fasern aus Kaffeesud oder den Schalen von Zitrusfrüchten gehören zu den Materialien der Zukunft. Und ich freue mich schon heute darauf, welche Entwicklungen wir diesbezüglich in den nächsten Jahren noch kennenlernen werden. 

Claus Bretschneider